"Danke Tegel"
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Geschichtsstunde an Gate 1

Flughafen Berlin-Tegel
Flughafen Berlin-Tegel, © Flughafen Berlin Brandenburg

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BERLIN – Am 8. November um 15.39 Uhr startete Air France-Flug AF1235 als letzter Passagierflug jemals von Berlin-Tegel. An Bord aero.de-Autor Andreas Spaeth. Er erlebte am Wochenende die emotionalen letzten Stunden der 60jährigen Flughafengeschichte.

Samstagabend um kurz nach acht Uhr abends. In der Abflughalle des Berliner Flughafens Tegel herrscht beinahe Festivalstimmung. Drei Flughafenmitarbeiter in roten Pullovern singen zur Gitarre mit einer Inbrunst und Hingabe wehmütige deutsche Schlager, eine blonde Frau von der Flughafensicherheit stimmt ein und schüttelt wild ihre Locken, ihre gelbe Sicherheitsweste ist über und über mit Unterschriften ihrer bald ehemaligen Kollegen bedeckt.

"Ich bin wieder hier, in meinem Revier", schmettert die improvisierte Künstlertruppe, eine Traube an Schaulustigen und ein TV-Team scharen sich um sie, alle mit Maske, nur mit dem Abstand wird’s ein wenig knapp. Der Abschied von Tegel berührt ganz offensichtlich die Seelen vor allem ehemaliger West-Berliner – für die in Tegel in Mauerzeiten der einzige unbehelligte Weg nach Westdeutschland oder in die weite Welt hinaus begann.

Am 8. November 2020 ist am Flughafen Tegel zum letzten Mal ein Linienflugzeug abgehoben.
Am 8. November 2020 ist am Flughafen Tegel zum letzten Mal ein Linienflugzeug abgehoben., © Andreas Spaeth


Besonders brillant machen es die Berliner Verkehrsbetriebe BVG, deren sonst oft raubauzige Fahrer an diesem Wochenende stolz mit ihren Bussen vor dem Terminal paradieren, sogar bereitwillig anhalten und winken für Erinnerungsfotos. Die sind besonders beliebt, weil in den Fahrtzielanzeigen zur Feier des Tages "Abschied vom Flughafen Tegel 7. November 2020" und "Danke TXL" aufleuchtet.

Während sich das gemeine Publikum an den wenigen öffentlich zugänglichen Fenstern drängt und durch Zäune auf das schon weitgehend im fahlen Scheinwerferlicht leer daliegende Vorfeld späht, versammeln sich Flughafenmitarbeiter auf den Dachterrassen ihres Gebäudes, die ein bisschen an Schiffsdecks erinnern. Das klassisch wirkende Terminal ist in rotes Licht getaucht, Laser projizieren "Danke TXL" an Tower und Außenmauer.

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Eine perfekte Kulisse ist bereitet für ein wichtiges Luftfahrtereignis. Die gebeutelte Lufthansa hat an diesem Abend zwar zum Ärger etlicher gebuchter Passagiere ihren letzten planmäßigen Flug nach Frankfurt gestrichen, schickt dafür aber auf die letzte Linienverbindung nach München besonderes Fluggerät – ihre A350 "Dortmund".

Und das ist sogar einen eigenen Eintrag in die Geschichtsbücher Tegels wert – denn eine Lufthansa-A350 ist noch nie planmäßig hier gelandet. Das erforderte an Gate 1 besondere Maßnahmen der Vorbereitung – und ließ ein kleines Luftfahrtdenkmal entstehen.

Eine Markierung für die Concorde

Nirgends auf der Welt gibt es sonst eine Abfertigungsposition, die Markierungen für das Abstellen des Bugrads aufweist wie hier – eine Reise durch die Luftfahrtgeschichte seit der Zeit der Eröffnung Tegels 1974. Insgesamt 16 verschiedene Punkte sind da in gelber Farbe für verschiedene Flugzeugtypen auf grauem Beton markiert, einige davon schon sehr ausgeblichen.

Am weitesten draußen liegt das erste gelbe Dreieck und die Aufschrift "CONCORDE". Ja, das Überschallflugzeug war zwischen 1976 und 1999 gut ein Dutzend Mal in Tegel – und sein Bugrad liegt sehr weit hinten unter dem Rumpf im Vergleich zu allen anderen Typen.

So nahe an der Fluggastbrücke wie keine andere ist dagegen die in frischem gelb erstrahlende Markierung "A359" angebracht – sie wurde erst vergangene Woche auf den Beton gepinselt, für den ersten und letzten Empfang eines A350-900, eben jenes Lufthansa-Abschiedsfluges am Samstag.

Am 8. November 2020 ist am Flughafen Tegel zum letzten Mal ein Linienflugzeug abgehoben.
Am 8. November 2020 ist am Flughafen Tegel zum letzten Mal ein Linienflugzeug abgehoben., © Andreas Spaeth


Zwischen diesen beiden Extremen liegen so ziemlich alle Flugzeugtypen der letzten Jahrzehnte, außer der A380. Sogar die Boeing 747 ist markiert, die hier nur einmal im Oktober 1990 gestanden hat. Ziemlich verblichen ist die Markierung "CAR SE-210" für die Caravelle, mit der Air France zwar 1960 den Betrieb im alten Nordterminal aufnahm, die aber am neuen Gebäude ab 1974 nur noch selten auftauchte.

Boeing 707/720 haben dagegen vermutlich in den 1970ern gelegentlich hier gestanden, etwa vom Charterflieger Air Berlin USA, Keimzelle der späteren deutschen Airline. Und die BAC 1-11 gehörte in den 1970er und 1980er Jahren zu den typischen Berlin-Fliegern, berüchtigt weil sie "Kerosin direkt in Lärm umwandelte", wie Kenner wussten.

Hightech trifft auf jahrzehntealte Infrastruktur

An diesem denkwürdigen letzten Tegel-Abend trifft dann ein modernes High-Tech-Flugzeug wie die A350 auf die Infrastruktur der 1970er. Im Gebäude gibt es nicht annähernd genug Platz und Toiletten für das fast ausgebuchte Flugzeug mit seinen 293 Sitzen.

Während der Bodenzeit wird hinten auf den Rumpf "Danke! TXL" projiziert, doch als Flug LH1955 leicht verspätet gegen halb zehn fertig zum finalen Abflug ist, wird es wieder schwierig. Die schon äußerlich verwitterte Fluggastbrücke ist nicht so manövrierfähig wie nötig, umständlich und stockend ruckelt sie hin und her, legt ab und dockt wieder an, bis sie schließlich weggerollt werden kann.

Regelbetrieb mit der A350 wäre auf diese Weise unmöglich gewesen. So erhält die "Dortmund" vor blutrotem Halbmond über Tegel einen ausgiebigen Salut der Feuerwehr vor einem Spalier aus hunderten Mitarbeitern.

Es folgt eine Umrundung des gesamten Terminalkomplexes, angeführt von einer Ehreneskorte aus einem halben Dutzend Follow-Me-Wagen, bevor die A350 in die Herbstnacht hinein nach München abhebt.

Letzte Gelegenheit für einen Low Pass

Am Sonntag ist der Flughafen offiziell bereits stillgelegt, über dem Vorfeld herrscht Ruhe und der Beton liegt gähnend leer in der milden Novembersonne. Betriebsam geht es über der Nordbahn zu – Sportflieger und sogar Business Jets schweben in dichter Folge vorbei, genießen ihre letzte Gelegenheit für einen Low Pass bei Traumwetter.

Am 8. November 2020 ist am Flughafen Tegel zum letzten Mal ein Linienflugzeug abgehoben.
Am 8. November 2020 ist am Flughafen Tegel zum letzten Mal ein Linienflugzeug abgehoben., © Andreas Spaeth


Vor dem Terminal scharen sich die Schaulustigen mangels Flugzeugen heute um Busse – die BVG hat zur Feier des Tages historische Fahrzeuge aus dem Depot geholt und setzt sie auf der Linie nach Tegel ein, Augenweide und Spektakel.

Das wird auch dem letzten Abflug in der Geschichte Tegels zuteil, AF1235 nach Paris soll er um 15 Uhr starten, eine Hommage an die Franzosen, auf deren alliiertem Territorium Tegel liegt.

Die Frau an der Sicherheitskontrolle fertigt die allerletzten Passagiere in Tegel jemals ab und ist den Tränen nahe. "Das ist das Ende für so Vieles hier gerade", sagt sie stockend. Am Gate C38 im ansonsten verlassen noch behelfsmäßiger wirkenden Terminal C hängen Ballons in den Farben der Trikolore, es werden Reden gehalten, Berlins Bürgermeister Michael Müller redet frei und sehr emotional: "Heute geht ein Stück Berlin verloren."

Großer Trubel auf dem Vorfeld, selten wurde dem Start einer simplen A320 eine solche Aufmerksamkeit inklusive Live-TV-Übertragung und einem Hubschrauber-Ballett der Bundespolizei zuteil. Air France-Pilot Christophe Ruch hält in der Kabine eine Ansprache, zunächst auf Deutsch.

"Tegel wird für immer im Herzen aller Berliner bleiben. Danke Tegel. Ich wünsche Ihnen einen sehr guten Flug." Um 15.39 Uhr hebt nach 60 Jahren der endgültig letzte Passagierflug in Tegel in den orangefarbenen Abendhimmel ab. Zeit für einen Schluck Champagner an Bord, Anstoßen auf den würdigen Abschied von einem ganz besonderen Flughafen.

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© Andreas Spaeth, aero.de | Abb.: Andreas Spaeth | 09.11.2020 16:41

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Beitrag vom 11.11.2020 - 21:08 Uhr
Naja, an Gate 1 wurden öfter so große Flieger abgefertigt, aber genau da hat man auch gemerkt, dass Tegel nicht nur am Limit war, sondern in Teilen auch darüber hinaus. Ich bin einige Male mit Hainan im A330-300 dort abgeflogen, und es war schon sehr voll im Wartebereich. Ich persönlich möchte vor einem 10-Stunden-Flug ohnehin nicht sitzen - es wäre aber auch nicht mehr gegangen. Und bei der Ankunft schon im Flugzeug an der Passkontrolle anzustehen war auch suboptimal. Der Flughafen war eben nicht für so große Flugzeuge geplant. Später in Terminal C war es dann mit dem Platz besser, dafür dann eben ohne den typischen Tegel-Charme...

Ich weiß ja nicht, ob sie jemals an dem ach so sehr gelobten Changi Airport um- bzw. eingestiegen sind.

Die Holding Rooms der einzelnen Flugsteige haben ihre eigene Sicherheitskontrolle. Wenn Sie da für eine ausgebuchte A380 boarden wollten, dann waren diese Holding Rooms heillos überfüllt. Sie haben nicht mal eine Toilette. Da kommt Freude auf, wenn sich das Boarden verzögert, Sitzplätze gibt es da auch nicht für jeden Fluggast.
Ich weiß nicht, ob alle Gates für die A380 so klein und ohne Klo sind, ich habe aber bisher da keine anderen Erfahrungen gemacht
Beitrag vom 10.11.2020 - 15:06 Uhr
Naja, an Gate 1 wurden öfter so große Flieger abgefertigt, aber genau da hat man auch gemerkt, dass Tegel nicht nur am Limit war, sondern in Teilen auch darüber hinaus. Ich bin einige Male mit Hainan im A330-300 dort abgeflogen, und es war schon sehr voll im Wartebereich. Ich persönlich möchte vor einem 10-Stunden-Flug ohnehin nicht sitzen - es wäre aber auch nicht mehr gegangen. Und bei der Ankunft schon im Flugzeug an der Passkontrolle anzustehen war auch suboptimal. Der Flughafen war eben nicht für so große Flugzeuge geplant. Später in Terminal C war es dann mit dem Platz besser, dafür dann eben ohne den typischen Tegel-Charme...
Beitrag vom 10.11.2020 - 07:56 Uhr
Der Bericht ist ja wirklich stimmungsvoll und gibt die Atmosphäre der beiden letzten Tage gut wieder.

Aber bitte keine Folklore!

An Gate 1 (an dem die A350-900 von LH letzt stand) wurden viele, viele Jahre A330-300 und A330-200 von AirBerlin, Hainan, LH und Qatar abgefertigt, täglich!
Die A330-300 ist nur 4m kürzer bei ähnlicher Passagierkapazität.

Auch diverse B 767-300 und 400 der Amis oder aus der Mongolei standen regelmäßig an der 1. Auch die fassen roundabout 300 Paxe

Warum also sollte ein Regelbetrieb mit A350-900 dort nicht möglich gewesen sein? Nur weil die Fluggastbrücke ruckelt?

Zwischen Terminal A und C (direkt vor dem Tower) wurden auf der Außenposition nach der Air Berlin Pleite monatelang B747-400, B777-300ER und A340-600 abgefertigt.
Da stellt sich mir die Frage nach dem Sinn folgenden Satzes: "Im Gebäude gibt es nicht annähernd genug Platz und Toiletten für das fast ausgebuchte Flugzeug mit seinen 293 Sitzen."

Dieser Satz ist lächerlich und peinlich zu gleich. In Tegel wurden 2019 24 Mio Passagiere abgefertigt, das entspricht einem Schnitt von fast 70.000 pro Tag. An Spitzentagen (erstes Ferienwochenende der Sommerferien) dürften es da deutlich mehr als 100.000 am Tag gewesen sein.

Hat sich der Autor möglicherweise dafür das kleine rote Buswartehäuschen der Haltestelle "Luftfracht" angeguckt? Man weiß es nicht...

Dieser Beitrag wurde am 10.11.2020 08:39 Uhr bearbeitet.


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