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Realität oder Satire? In Zeiten, in denen sich beides auf bitterböse Weise überschneidet, fällt es oft schwer, den Überblick zu behalten und die Dinge richtig einzuordnen.
Jedenfalls berichtete die russische Nachrichtenagentur Interfax am 22. März, S7 Airlines mit Sitz in Moskau werde drei seit Jahren abgestellte Iljuschin Il-86 sowie zwei Il-96 reaktivieren. Auch RIA Novosti vermeldete diese Nachricht.
Beide Agenturen beriefen sich als Quelle auf ein Zitat des russischen Verkehrsministers Witalij Saweljew, der am Rande einer Tagung gesagt haben soll, S7 stehe nun unter seiner Schirmherrschaft und er sei sich mit seinem Kabinettskollegen Manturow, Minister für Industrie und Handel, darin einig, dass man die genannten Sowjet-Jets wieder in Betrieb nehmen wolle.
"Wir werden damit fliegen", so Saweljew, der von 2009 bis 2020 als Chef der nationalen Fluglinie Aeroflot fungierte.
Einen Tag später griff die russische Satire-Webseite panorama.pub die Nachricht in parodistischer Manier auf und merkte an, man habe in Nowosibirsk bereits eine erste Il-86 "gefunden", die dort als Denkmal der sowjetischen Luftfahrt ausgestellt sei. Der 1988 gebaute Oldschool-Vierstrahler werde gerade auf Vordermann gebracht und solle noch vor Monatsende in Dienst gehen.
"Laut den Ingenieuren von S7-Technics bestand die schwierigste Aufgabe für sie darin, Spuren von Vandalismus im Cockpit zu beseitigen und die Motoren von Trümmern zu befreien", heißt es in dem Beitrag des Portals, das inhaltlich mit der bekannten deutschen Satire-Seite "Der Postillon" vergleichbar ist.
Die Il-86 ist ein Dinosaurier
Nun scheint es bei objektiver Betrachtung tatsächlich wenig realistisch, dass S7 oder eine andere russische Airline auf derart veraltete Maschinen wie die Il-86 zurückgreift, um damit kurzfristig westliches Gerät zu ersetzen. Der erste Widebody der Sowjetunion galt bereits in den 80er-Jahren als ebenso schadstoffstark wie leistungsarm, äußerst durstig und dank begrenzter Reichweite wenig wirtschaftlich.
Zudem wird er von einer vierköpfigen Cockpitbesatzung geflogen, bestehend aus Pilot und Copilot, Navigator und Bordingenieur. Die letztgenannten Berufsbilder sind sucht man in der modernen Luftfahrt vergebens.
S7 setzte die Il-86 zwar selbst bis 2008 ein - dass es tatsächlich zu einem Comeback der seit Jahren an diversen Airports vor sich hin rottenden Vierstrahler kommt, mutet dennoch derart abstrakt an, dass man es erst glauben möchte, wenn sich tatsächlich die erste reaktivierte Il-86 wieder in die Lüfte kämpft und russische Urlauber, die es sich noch leisten können, zum Urlaub in die Türkei oder nach Ägypten transportiert.
Dass der Verkehrsminister öffentlich mit derlei Planspielen zitiert wird, offenbart allerdings ein recht hohes Maß an Verzweiflung, angesichts der aktuellen Lage der russischen Passagierluftfahrt.
Renaissance für die Il-96
Etwas anders sieht es bei der, ebenfalls vierstrahligen, Nachfolgerin der Il-86 aus: die Il-96 ist zwar nach heutigen Gesichtspunkten ebenfalls unwirtschaftlich und technisch überholt, besitzt aber immerhin ein modernes Glascockpit mit Fly-by-wire-Steuerung, kann von einer zweiköpfigen Crew geflogen werden und wartet mit wesentlich besseren Flugleistungen auf als die chronisch untermotorisierte Vorgängerin.
In Russland steht die Il-96 derzeit nur bei der staatlichen Regierungsflotte als VIP-Jet im Einsatz, weltweit betreibt Kubas Staats-Carrier Cubana als letzte Airline das Muster kommerziell. Laut der Datenbank russianplanes.net sind aktuell jedoch rund zehn Il-96, die zuvor unter anderem für Aeroflot unterwegs waren, in Russland eingemottet.
Die Produktion der Il-96 stand außerdem auch in jüngster Vergangenheit nicht ganz still, sondern stieß in unregelmäßigen Abständen immer wieder einzelne, fabrikneue Flugzeuge aus. Dazu kommt die "neue" Version Il-96-400M, deren erster Prototyp in Woronesch gerade endmontiert wird.
Mangels Kaufinteresse sollte die Il-96-400M zwar nach Verlautbarungen aus dem vergangenen Jahr nicht in Serie gehen. Die aktuelle Situation könnte jedoch dafür sorgen, dass die Flugzeugbau-Holding UAC diesen Entschluss noch einmal überdenkt – zumal schon zuvor immer wieder die Idee einer zweistrahligen Variante durch die Medien geisterte, ausgestattet mit dem russischen Turbofan PD-35, der aber erst noch gebaut werden muss.
Tu-214 für die Mittelstrecke
Viel dringender als Großraumjets brauchen Russlands Fluglininen allerdings kleinere Flugzeuge, mit denen sich Kurz- und Mittelstrecken bedienen lassen. Hier hat Russland mit der Tupolew Tu-204, vor allem aber mit der verbesserten Tu-214 ein Muster in A321-Größe vorzuweisen, dessen Wurzeln in der Spätphase der UdSSR verortet sind.
Tatsächlich interessiert sich die russische Regierung offenbar verstärkt für die Tu-214, die gegenüber dem Ausgangsmodell Tu-204 mit zusätzlichen Tanks, höherem Abfluggewicht und entsprechend mehr Reichweite aufwartet.
Bei einem Besuch des Flugzeugwerks in Kasan, wo die Tu-214 aktuell in Kleinserie fürs Militär gebaut wird, unterstrich Vize-Premierminister Juri Borissow, man werde "die Frage erörtern, wie wir nach und nach mindestens zehn Tu-214 bauen können."
Ob pro Jahr oder pro Monat, geht aus dem Statement nicht eindeutig hervor. Er denke, dass das Werk die Produktion der Tu-214, die zuletzt ebenfalls auf Sparflamme weiterlief, "bereits vollständig vorbereitet" habe, ergänzte Borissow jedoch.
Die wenigen ausländischen Komponenten, die bei der Tu-214 verbaut seien, könnten binnen eines Jahres problemlos durch einheimische Pendants ersetzt werden. "Die dringende Aufgabe besteht darin, die Produktion einheimischer Modelle in der erforderlichen Menge wieder aufzunehmen, damit wir keine Schwierigkeiten mit dem Transport russischer Staatsbürger im In- und Ausland haben", so Borissow.
Derzeit prüfe man den Einsatz von Tu-214 bei Aeroflot und Red Wings. Letztere hatte in vergangenen Jahren sowohl die Tu-214 als auch die ältere Tu-204 in Betrieb, die Jets aber gegen westliches Gerät getauscht und die letzte Tu-214 im Jahr 2017 ausgemustert.
"Suche nach legalen Wegen"
Parallel zu den Versuchen, die bereits totgeglaubten Airliner der späten 80er- und frühen 90er-Jahre aus der Versenkung zu holen, sieht sich Russland auch anderweitig nach Möglichkeiten um, die Sanktionen der westlichen Staaten für den Luftverkehr so weit wie möglich abzufedern. Verkehrsminister Saweljew rief diesbezüglich in einem Interview mit der Agentur Tass Mitte März den Iran als Vorbild aus.
Außerdem versuche man nach wie vor, mit den westlichen Leasingfirmen, deren Flugzeuge man - entgegen internationalem Recht - einbehält, zu einer Einigung zu kommen. "Wir haben fast 800 Flugzeuge zur Inlandsregistrierung umgestellt", erklärte der Minister. Ein Großteil davon steht im Eigentum ausländischer Leasinggeber.
Die Maschinen würden bei russischen Rückversicherungsgesellschaften versuchert, die der Zentralbank unterstellt seien. "Wir suchen nach legalen Wegen, um eine Einigung mit den Vermietern zu erzielen und dieses Problem zu lösen, aber das ist noch nicht möglich", so Saweljew weiter. "Wir verlieren jedoch nicht die Hoffnung und geben nicht auf, denn ansonsten stünden wir ohne Lufttransport da."
Fazit
Russlands ziviler Flugzeugbau steht ziemlich nackt da: die eigenen Neuentwicklungen sind noch nicht marktreif, die möglichen Fertigungszahlen wirken auch langfristig nicht ausreichend, um westliche Flugzeuge zu ersetzen. Der angedachte Rückgriff auf ältere Designs aus den 80ern mag naheliegend sein, besonders durchdacht und zielführend wirkt er nicht.
Ob, und wenn ja, in welchem Umfang die einst verschmähten Airliner à la Tu-214 tatsächlich eine Renaissance erleben, bleibt abzuwarten. Rein zahlenmäßig wird ihr Einfluss vermutlich aber gering bleiben – die Kapazitäten der Flugzeugwerke sind einfach zu marginal.
Allerdings: Der Bedarf an Flugreisen dürfte in Russland ohnehin deutlich zurückgehen - viele Russen werden sich das Fliegen schlicht nicht mehr leisten können (oder wollen). Wenn also die Flotte westlicher Jets aufgrund Beschlagnahmung oder Ersatzteilmangel zusammenschrumpft, wäre das für den laufenden Betrieb wohl fürs Erste verschmerzbar.
© FLUG REVUE - Patrick Zwerger | Abb.: UAC | 02.04.2022 08:59
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