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Minsk, 23. Mai 2021: Ryanair 4978 hat den Anflug auf Vilnius begonnen. Nur noch wenige Meilen trennen die 737-800 von der EU-Luftraumgrenze zu Litauen als die belarussische Flugsicherung den Flug nach Minsk umleitet.
"Sie haben eine Bombe an Bord", drängt der Lotse die Piloten. Die reagieren zunächst mit gesunder Skepsis - immerhin liegt der Zielflughafen Vilnius sehr viel näher als Minsk. Eine aufgestiegene MiG-29 verschafft der Aufforderung in der Luft Nachdruck - 30 Kilometer vor der Grenze dreht FR4978 nach Minsk ab.
Am Flughafen wird schnell klar, was der belarussische Geheimdienst mit dem Manöver eigentlich bezweckt: Sicherheitskräfte nehmen nach der erzwungenen Landung in Minsk den regimekritischen Blogger Raman Protassewitsch in Haft, der sich an Bord des Flugs aus Athen befand.
Die ICAO hat am Montag einen "Fact-Finding-Report" zu Flug FR4978 unter ihren Mitgliedstaaten publiziert. Der Bericht ist offiziell noch Verschlusssache, liegt dem "Wall Street Journal" und Nachrichtenagenturen aber vor. Der Inhalt wirft ein Schlaglicht auf Ungereimtheiten in der belarussischen Darstellung der Ereignisse.
Minsk beruft sich auf zwei Bombendrohnungen der Hamas gegen den Flug, die unmittelbar nacheinander per Email eingegangen sein sollen. Die Hamas hatte umgehend dementiert, Absender der fraglichen Nachrichten zu sein.
Achselzucken in Minsk
Belarus will die erste Nachricht um 9:25 Uhr GMT empfangen haben, konnte der ICAO allerdings nur den Eingang der zweiten Nachricht um 9:51 Uhr GMT nachweisen. Die erste Nachricht sei zwischenzeitlich entlang der Regeln zur Datenaufbewahrung gelöscht worden, gab Belarus gegenüber der ICAO zu Protokoll.
"Der Eingang der ersten Mail ist ausschlaggebend", stellt das ICAO-Papier fest - denn nur fünf Minuten später nahm die Flugsicherung Kontakt zu Ryanair 4978 auf.
Viel Kooperationsbereitschaft zeigte die belarussische Regierung in dem Verfahren offenbar ohnehin nicht. Etwaige Aufzeichnungen von Kameras des Minsker Flughafens? Längst gelöscht.
Gerne hätten ICAO-Ermittler den beteiligten Fluglotsen befragt. Der Mitarbeiter sei nach seinen Sommerferien nicht mehr zum Dienst erschienen, sein aktueller Aufenthaltsort unbekannt, lautete die Antwort aus Belarus. In belarussichen Oppositionskreisen geht die Vermutung um, dass das Regime den Zeugen längst beseitigt hat.
Gegen Protassewitsch strengen belarussische Ankläger unterdessen einen Scheinprozess an. Der Oppositionelle soll sich laut Medienformationen bald in zehn Anklagepunkten verantworten, darunter "Hochverrat", "Verschwörung zum Umsturz der Regierung", "Aufwiegelung zu Massenunruhen" und "Mitgliedschaft in einer extremistischen Vereinigung".
Sanktionen treffen Belavia
Die EU hat zwischenzeitlich Konsequenzen gezogen. Die staatliche Airline Belavia ist EU-weit gesperrt, EU-Leasingfirmen mussten die Geschäftsbeziehung mit Belavia beenden. Die ICAO will am 31. Januar über den Fall beraten. Ryanair-Chef Michael O`Leary hatte dem belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko nach dem Vorfall "Luftpiraterie" vorgeworfen.
© aero.de | Abb.: Boeing | 19.01.2022 15:34
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