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Unglück wirft Boeing in "wichtigem Übergangsjahr" zurück

Alaska Airlines Boeing 737 MAX 9
Alaska Airlines Boeing 737 MAX 9, © NTSB

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WASHINGTON - Falsch gesetzte Bohrlöcher, lockere Schrauben am Steuerruder, und jetzt bricht aus einem fast neuen Mittelstreckenjet im Flug ein Teil der Passagierkabine heraus: Boeing kommt auch Jahre nach den tödlichen Abstürzen zweier Jets aus der 737-MAX-Reihe nicht aus der Krise.

Immer neue Mängel ramponieren den Ruf des einstigen Branchenprimus. Sein europäischer Konkurrent Airbus eilt ihm davon. Der Zwischenfall ist ein Rückschlag für Boeing-Chef Dave Calhoun, der den Konzern nach herben Verlustjahren zurück in die Spur bringen will.

Auf dem Flug einer Boeing 737-9 MAX von Portland nach Ontario flog am Freitag plötzlich ein Teil aus dem Rumpf, das eine bei dieser Variante nicht benötigte Türöffnung verschließt. Die Piloten der Fluggesellschaft Alaska Airlines konnten die Maschine zwar sicher landen - und die 171 Passagiere kamen weitgehend mit dem Schrecken davon.

Doch die US-Luftfahrtbehörde FAA ordnete ein vorläufiges Flugverbot für weltweit gut 170 Maschinen und umgehende Inspektionen an. Immerhin: In der Europäischen Union sind laut der hiesigen Behörde EASA keine Maschinen betroffen.

Bei Boeing folgt das Unglück auf eine Serie von Entwicklungs- und Produktionsfehlern. Immer wieder handelt es sich um die "MAX" - die jüngste Auflage des Mittelstreckenjets 737, dessen Grundkonstruktion aus den 1960er Jahren stammt. Mittelstreckenjets sind die meistgefragten Flugzeugtypen - und die "Max" für Boeing der wichtigste Umsatzbringer.

Mit der Weiterentwicklung hatte der US-Konzern auf den Erfolg der Airbus-Mittelstreckenjet-Familie A320neo reagiert. Doch dann stürzten vor rund fünf Jahren zwei "Max"-Maschinen ab, 346 Menschen starben. Behörden in aller Welt verhängten deshalb Flugverbote für den Typ: Ab März 2019 durfte die "Max" mehr als anderthalb Jahre lang nicht mehr abheben und wurde erst nach technischen Verbesserungen nach und nach wieder zugelassen. Den Hersteller kostete das Desaster Milliardensummen.

Nach vier Verlustjahren in Folge zeichneten sich zuletzt auch für 2023 rote Zahlen ab. Neben teuren Problemen bei anderen Projekten musste der Konzern die Auslieferungen der 737 MAX zuletzt gleich zweimal unterbrechen - zunächst wegen Qualitätsmängeln am hinteren Rumpfteil, dann wegen fehlerhafter Bohrlöcher in dem Druckschott, das die Flugzeugkabine nach hinten abschließt. Verantwortlich war jeweils der Zulieferer Spirit Aerosystems . Das Unternehmen hatte früher selbst zu Boeing gehört und fertigt etwa 70 Prozent der 737-Rümpfe.

Warum nun das Rumpfteil aus dem Jet von Alaska Airlines platzte, ist noch offen - ebenso, ob Boeing oder Spirit das Problem verursacht haben. In den Tagen vor dem Unfall sollen andere Crews in der betroffenen Maschine zweimal eine Kabinendruckwarnung erhalten haben.

Seit den "MAX"-Unglücken muss allerdings jeder Jet vor der Auslieferung von der FAA freigegeben werden. Die anhaltenden Qualitätsmängel und Probleme in den Lieferketten dürften Sorgen bei Aktionären auslösen, schätzt Branchenexperte Gavin Parsons von der schweizerischen Großbank UBS.

Die Boeing-Aktien verloren kurz nach US-Handelsbeginn am Montag rund neun Prozent auf 227,46 Dollar. Kurz vor den Abstürzen und dem Flugverbot für die 737 Max vom März 2019 hatten Anleger mit bis zu 446 Dollar noch fast doppelt so viel bezahlt. Die Anteilscheine von Airbus näherten sich am Montag hingegen ihrem Rekordhoch vom Dezember.

Immer wieder wurde Boeing vorgeworfen, für eine höhere Rendite an Qualität und Sicherheit gespart zu haben. Der Anfang 2020 angetretene Boeing-Chef Calhoun versucht den Hersteller wieder auf Erfolgskurs zu bringen. Der Weg dürfte holprig werden, erklärte er zuletzt. So musste Boeing in den vergangenen Jahren auch die Auslieferungen des Langstreckenjets 787 "Dreamliner" wiederholt unterbrechen.

Die Erstauslieferung des modernisierten Großraumjets 777X hat der Hersteller sogar um mehrere Jahre verschoben. Und die Kurz- und Langversionen der 737 Max sind immer noch nicht zugelassen.

Im Massengeschäft mit den Mittelstreckenjets ist Boeing längst hinter Airbus zurückgefallen. Ende November hatte der US-Konzern gut 4500 Exemplare der 737 Max im Auftragsbuch, der Konkurrent aus Europa kam mit seiner Modellfamilie A320neo auf rund 6700 Stück. Airbus-Chef Guillaume Faury will die Produktion der A320neo-Familie deshalb bis 2026 auf 75 Maschinen pro Monat ausweiten. Das sind anderthalbmal so viele, wie Boeing für sein Konkurrenzmodell anpeilt.

Die vollen Auftragsbücher verhindern auch, dass Airbus seinem US-Konkurrenten noch weiter enteilt. So ärgerte sich Ryanair-Chef Michael O'Leary zwar wiederholt über seinen Stammlieferanten Boeing - bestellte aber im vergangenen Jahr 150 weitere 737 Max. Bei Airbus könne er vor 2030 keine Jets bekommen, sagte er im Dezember.

Die Lufthansa entschied sogar, ihre reine Airbus-Mittelstreckenflotte wieder mit Boeing-Maschinen zu ergänzen - und orderte vor Weihnachten 40 Exemplare der 737 Max.

Der Zwischenfall bei Alaska Airlines könnte es für Calhoun noch schwieriger machen, die Trendwende bei Boeing hinzubekommen. Dabei hatte der Konzern mit Stephanie Pope erst vor wenigen Wochen eine Managerin auf einen neuen Posten gehievt, auf dem sie als aussichtsreichste Kandidaten für die Nachfolge an der Konzernspitze gilt.

Calhoun selbst hatte das Jahr 2024 bereits im Herbst als "wichtiges Übergangsjahr" bezeichnet. Nach dem jüngsten Zwischenfall mahnte er die Mitarbeiter: Trotz Fortschritten in den vergangenen Jahren seien "Situationen wie diese eine Erinnerung daran, dass wir uns weiterhin darauf konzentrieren müssen, uns jeden Tag zu verbessern", erklärte er am Sonntag in einer Botschaft an die Belegschaft.

Auswirkungen auf Produktionsziele

Branchenexperte Richard Aboulafia von der Luftfahrtberatung Aerodynamic fürchtet, dass der Hersteller die Produktion der 737 MAX jetzt nicht so schnell hochfahren kann wie eigentlich geplant. Nach den bisherigen Verzögerungen müssten Fluggesellschaften dann noch länger auf neue Maschinen warten.

Das hätte dann auch Folgen für das Flugangebot. Ryanair-Chef O'Leary hatte seine Geschäftspläne schon zuletzt davon abhängig gemacht, dass Boeing neue Maschinen wie versprochen liefert.
© dpa-AFX | Abb.: NTSB | 08.01.2024 16:39

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Beitrag vom 14.01.2024 - 23:43 Uhr
 https://www.heise.de/news/Wall-Street-Journal-Strukturelle-Qualitaetsmaengel-bei-Boeing-Zulieferer-9597079.html
Beitrag vom 14.01.2024 - 23:16 Uhr
Wenn der Chef einer Firma meint mit Appellen an die Mitarbeiter die Qualität nachhaltig verbessern zu können, dann ist dies ein weiteres Zeichen, dass Boeing immer noch nicht verstanden hat, was in der Firma falsch läuft. Das ist Augenwischerei, aber halt billig. Und genau darauf kommt es wohl an.

Was diese Firma wirklich braucht, ist eine vom Top-Management ausgehende und auch uneingeschränkt unterstützte (personell und finanziell) Qualitätsoffensive, die alle Prozesse vom Entwurf bis zur Fertigung systematisch überarbeitet. Aber das könnte ja die zukünftigen Ausschüttungen und damit auch die Boni schmälern ...
Beitrag vom 14.01.2024 - 23:09 Uhr
Warum wird dieses Ereignis als Unglück bezeichnet? Ein Unglück ist IMHO ein unvermeidbares zufälliges negatives Ereignis. Hier aber handelt ein eklatantes Versagen von Boeing bei der Fertigung bzw. QA. Richtig müsste die Überschrift m.E. daher lauten '(Weiterer) Pfusch wirft Boeing in "wichtigem Übergangsjahr" zurück'


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